Es ist wieder mal so ein Tag.
Am Frühstückstisch blättere ich im neuen Elektronik-Prospekt des Grossverteilers; die Armbänder, die Schritte zählen, Puls und zurückgelegte Distanzen messen, die Activity-Tracker also, gibt’s jetzt vielfarbig und zum Aktionspreis.
Wir seien eine Trainings-Gesellschaft, hat Peter Sloterdijk vor ein paar Jahren schon geschrieben, angetrieben von einer Gedichthalbzeile Rilkes: „Du musst dein Leben ändern!“ Ein Weg zur Weltverbesserung, und um diese würde es letztlich gehen (müssen), führe über die Selbstverbesserung.
Von all den Tools zur Selbstvermessung, die inzwischen kreiert und auf den Markt gebracht wurden, steht bei Sloterdijk noch nichts; der inzwischen üblich gewordene Begriff des „Quantified Self“ kommt in seinem 2009 erschienenen Buch nicht vor. Begreiflicherweise, denn dieses sich selbst optimierende Selbst konzentriert sich vermutlich nur auf die Verbesserung seiner Physis und denkt kaum daran, sich (auch) moralisch zu verbessern. Andersrum: Es fällt wahrscheinlich leichter, die körperliche Leistungsfähigkeit zu verbessern als die moralische Performanz, ergo trainiert man den Körper und hofft, der Geist mache diese Reise zum Besseren auch mit. Denn immerhin sagten schon die Alten: „Mens sana in corpore sano“.
Aber weil es wieder mal so ein Tag ist, lese ich weiter auf meinem iPad und finde eine Meldung über einen Elektroenzephalografen, „der beim Meditieren helfen soll.“ Es ist ein Gerät, das aussieht wie eine Mischung aus Kopfhörer und Stirnband. Mit ihm lassen sich die eigenen Gehirnströme aufzeichnen. Kostenpunkt: 300 Dollar.
Der moderne Mensch versammelt also zunehmend Tools und Apps um sich, mit deren Hilfe er sich vermessen, die Resultate statistisch erfassen, analysieren und visualisieren kann – mit dem Ehrgeiz, sich physisch und, hoffentlich, moralisch zu verbessern und gesünder zu werden respektive gesund zu bleiben. Sollte er sich dennoch einmal krank fühlen, kann er vielleicht bald zum virtuellen Medizinmann gehen: „Statt Selbstdiagnose: Google schickt Kranke zur virtuellen Sprechstunde“. In den USA soll das getestet werden.
Der Punkt ist inzwischen längst erreicht, wo das Lesen zum Nachdenken führt. Noch immer sitze ich am Frühstückstisch, der Tee ist längst kalt geworden; ich schaue aus dem Fenster auf den Fluss, der gemächlich vorbei zieht. Einige farbige Blätter zieren seine Oberfläche, es ist Herbst. Und ich erinnere mich an Byung-Chul Han, den ich sehr gerne lese, auch weil seine Sprache dem langsamen Fliessen des Flusses vor meinem Fenster ähnelt. In einem langen Interview äusserte er kürzlich – passend zum Frühstücksthema heute – Folgendes:
„Schauen Sie sich die Menschen an, die ihren Körper mit allen möglichen Sensoren ausstatten und rund um die Uhr Blutdruck, Blutzuckerwert und Fettanteil messen und diese Daten ins Netz stellen! Man nennt das Self-Tracking. Diese Menschen sind bereits Zombies, sie sind Puppen, die von unbekannten Gewalten am Draht gezogen werden, wie Georg Büchner in Dantons Tod gesagt hat.“
(…)
„Aber dieses Leben ist da bedroht, wo alles maschinell wird, wo alles von Algorithmen beherrscht wird. Der unsterbliche, maschinelle Mensch, der den Posthumanisten wie Ray Kurzweil vorschwebt, wird kein Mensch mehr sein. Vielleicht werden wir irgendwann mithilfe von Technik Unsterblichkeit erlangen können, dafür werden wir das Leben verlieren. Wir werden Unsterblichkeit erreichen um den Preis des Lebens.“
Es ist wieder mal so ein Tag.