Heute hatte ich ein Gespräch mit einer ehemaligen Berufskollegin. Sie arbeitet seit bald dreissig Jahren an einem Gymnasium, momentan mit einem Pensum von 80%. Kaum hatten wir uns an den Küchentisch gesetzt, brach es aus ihr heraus. Sie zeigte mir acht Klassensätze an Probearbeiten, die sie in den Weihnachtsferien zu korrigieren und zu benoten haben wird. Sie erzählte vom jährlichen Unterrichtsbesuch des Mitglieds der Schulleitung, welches der Evaluation der Unterrichtsqualität dienen soll, und dem schriftlichen Bericht dazu, den sie, abgesehen von aktualisierten Kopfdaten, wortwörtlich schon vor einem Jahr erhalten hatte. Sie schilderte ihre kräftezehrende Arbeit als Ombudsfrau der Schule. Sie berichtete von ihrer Studienwoche, wo sie als einzige Lehrkraft im 24-Stunden-Dienst eine Klasse im Ausland zu betreuen hatte (zusätzliche Begleitpersonen sind zwar willkommen, müssen die Woche jedoch selber berappen). Und dann kam das, was wohl allen zu begreifen schwer fallen dürfte: „Und trotzdem bin ich im Minus!“
Gemeint damit ist das Punktesystem, mittels welchem die Schule die verschiedenen Leistungen der Lehrpersonen quantitativ erfasst zum Ziel der Lohngerechtigkeit (Beispiel: Der stundenmässige Einsatz einer Instrumentallehrkraft, die nie Maturprüfungsarbeiten korrigiert, wird so in etwa dem Aufwand einer Sprachlehrkraft gleichgestellt, die kaum je ein Konzert organisiert. Wer keine Maturitätsprüfungen abnehmen muss, gerät im Vergleich mit der Instrumentalkollegin, die ein Vorspiel gestaltet, punktemässig ins Hintertreffen). Es kann also je nach Art und Umfang der diversen Amtsaufträge, die eine Gymnasiallehrperson heute wahrzunehmen hat, durchaus vorkommen, dass jemand gegenüber dem standardisierten Pflichtpensum an Punkten „ins Minus“ geraten kann. Ein solches Minus kann nur ausgeglichen werden mit der Erhöhung des Pensums beispielsweise, einer zusätzlichen Mitarbeit in schuleigenen Arbeitsgruppen – oder aber man nimmt einen Lohnabzug in Kauf.
Die ehemalige Kollegin sitzt am Küchentisch und erzählt aus ihrem Berufsalltag; ihr Bericht mündet in den Satz: „Und trotzdem bin ich im Minus!“ Wer – wie ich – annimmt, das sei das Ende der Geschichte, irrt. Denn sie fügt noch einen Satz hinzu: „Und dann habe ich dem Abteilungsleiter gesagt, er solle mir doch verdammt nochmal einfach den Lohn kürzen; andernfalls gerate ich definitiv ins Burnout.“
Das war dann das Ende ihres Berichts.
In einem Schulsystem, in einer Bildungspolitik, wo sich Lehrpersonen unter Umständen mit einem Mal vor die Alternative gestellt sehen: Burnout oder Lohnkürzung? läuft m. E. etwas grundsätzlich schief. Überdies: Wie könnte denn ein Bonus-Malus-Konzept von Punkten je Lehrpersonen motivieren?
Auch wenn dieses Konzept dem Vernehmen nach laufend verbessert wird (kann man das denn?), stellen sich doch ein paar drängende Fragen:
- Wie kann man Lehrpersonen vor dem Burnout bewahren?
- Wie könnte Lohngerechtigkeit hergestellt werden in einem Beruf, wo Arbeitszeiten und -inhalte kaum vergleichbar sind?
- Warum scheint es für Schulleitungen so schwierig zu sein, Lehrpersonen nicht laufend zu frustrieren? Wie könnte man sie ermutigen?
Meine ehemalige Kollegin sitzt am Küchentisch, fühlt sich ausgebrannt – und wird wohl trotzdem acht Klassensätze Probearbeiten durcharbeiten in den Ferien. Denn Mitte Januar ist Notenabgabe. Was soll sie jetzt tun? Und: Wie wird wohl der Abteilungsleiter ihrer Schule reagieren, der von ihrem Gemütszustand weiss?