Bei der Visionierung des beeindruckenden Dokumentarfilms „Lehrkraft im Vorbereitungsdienst“ ist mir aufgefallen, wie viel Energie die drei im Film gezeigten Referendare aufbringen, mit wie viel methodischen Tricks sie arbeiten müssen, um in ihren Klassen überhaupt nur einen point de départ herzustellen, von dem aus eine Unterrichtssequenz sinnvoll gestartet werden kann. Es dauert jeweils – für den Laien vermutlich unerhört – lange, bis Ruhe einkehrt und die Lerngruppe einigermassen konzentriert „da“ ist.
Das ist nicht nur in diesem Filmdokument zu sehen, das lässt sich auch bei jedem Schulbesuch, an welcher Schulstufe auch immer, erleben. Galt früher vielleicht zumindest noch der aus der Quantenphysik bekannte Satz: Der Beobachter beeinflusst das Experiment, dauert die Unruhe in einer Klasse heute auch bei der Anwesenheit eines von den Schülerinnen und Schülern deutlich wahrgenommenen Unterrichtsbesuchers unvermindert an (im Film schien die Anwesenheit der zuschauenden Referendare nichts an der „normalen“ Situation zu verändern).
Woher rührt diese nur schwer (also unter Zuhilfenahme „didaktischer Klimmzüge“, wie einer meiner Kollegen einst bemerkt hat) zu bändigende Unruhe? Ist sie das Resultat des Zusammenstosses von „Natur“ und „Kultur“, des Umstandes also, dass sich „die Widerspenstige“ nur ungern „zähmen“ lässt (in Anlehnung an einen Titel Shakespeares)? Wehrt sich das Individuum Schüler*in instinktiv gegen die Einbindung in ein System? Will sich Regelloses auflehnen gegen die Einschliessung ins Regelhafte? Bäumt sich das ursprüngliche Wilde des Kindes gegen die Künstlichkeit unterrichtlicher Organisation auf? Das Eigene gegen das Entfremdende?
Adorno hat in seinem Vortrag mit dem Titel „Tabus über dem Lehrerberuf“ am 21. Mai 1965 – leider etwas umständlich – Folgendes gesagt:
„Das Problem der immanenten Unwahrheit der Pädagogik ist wohl, dass die Sache, die man betreibt, auf die Rezipierenden zugeschnitten wird, keine rein sachliche Arbeit um der Sache willen ist. Diese wird vielmehr pädagogisiert. Dadurch allein schon dürften die Kinder unbewusst sich betrogen fühlen. Nicht bloss geben die Lehrer rezeptiv etwas bereits Etabliertes wieder, sondern ihre Mittlerfunktion als solche, wie alle Zirkulationstätigkeiten vorweg gesellschaftlich ein wenig suspekt, zieht etwas von allgemeiner Abneigung auf sich. Max Scheler sagte einmal, er habe pädagogisch nur deshalb gewirkt, weil er niemals seine Studenten pädagogisch behandelt habe.“
Kinder und Jugendliche wollen also nicht geschult werden, weil das, womit sie sich – gezwungenermassen, nach wie vor! – auseinandersetzen sollten, „pädagogisch“ (heute würde man eher „didaktisch“ sagen) vorbehandelt wurde. „Herunter brechen“ nennen einige solche Massnahmen. Das Phänomen, um das es gehen soll, wird in verdaubare Dosen aufgespalten – wie der Holzprügel zu Feuerholz. Vielleicht „brennen“ die Schüler*innen deshalb so selten? Vielleicht sind die Klassen unruhig, weil sie im Grunde beleidigt sind, wie wenig man ihnen zutraut, wie oft man ihnen fertig geteerte Wege durch den Lernpark anbietet, statt sie Elefantenpfade auskundschaften zu lassen? Wie sagt der eine Referendar an der Schlussprüfung? „Projektarbeit in der Physik ist unmöglich!“