Gymnasiallehrer B sitzt am grossen Tisch im Lehrerstützpunkt und wartet auf seinen Einsatz. Er möchte heute Dienstag von 10.15-11..50 Uhr im Zimmer 201 mit der Klasse 4G die Einführung in Brechts Lyrik wagen. Wie jeden Dienstag weiss er: Der Unterrichtsraum ist bis 10.00 Uhr belegt vom Englisch-Kollegen. Dieser bevorzugt die mittlerweile klassisch gewordene U-Form für die Bestuhlung, B jedoch will das Zimmer so einrichten, dass die taube Schülerin R. alle Klassenkolleginnen und -kollegen sehen kann, wenn sie sprechen. Das bedeutet jeweils, dass sich die Anordnung der Tische in einem Dreiviertelkreis aufdrängt. Für die heutige Einführung steht eine Doppellektion zur Verfügung, also hat B für den ersten Teil ein Atelier vorbereitet mit sechs Stationen (passend zur Anzahl Studierender in der Klasse); die Materialien dafür möchte er auf den beiden langen Tischen entlang der Fensterfronten auslegen, was in der Regel bedeutet, Wörterbücher zu verräumen, vergessene Handschuhe zu bergen, leere Mineralwasserfläschchen, zurückgelassene Papiertaschentücher und zerknüllten Kaugummipäckchen zu entsorgen. Vielleicht würde auch das Lüften zu den Vorbereitungsarbeiten gehören, da der Kollege seine nächste Stunde in einem Nebengebäude abzuhalten hat und mehr oder weniger fluchtartig das 201 zu verlassen pflegt.Und anzunehmen ist auch, dass die Wandtafel gereinigt werden muss; die dafür verantwortlichen Schüler sind bekanntlich Weltmeister im Vergessen dieser Pflicht.
Erst nach diesen Vorarbeiten und der Umgestaltung der Tischordnung wird B die Infrastruktur seines eigenen Unterrichtsvorhabens einrichten können: die sechs Stationen aufbauen, den mitgebrachten Laptop anschliessen und mit dem Beamer aufstarten, probeweise ein paar Folien projizieren und ein paar Worte wechseln mit den ersten Studierenden, die bereits ins Zimmer kommen. Die Zeit reicht gerade noch, um den Ablauf der Lektion an die Tafel zu schreiben (schon wieder wird die Kreide knapp …).
Dies alles geht B durch den Kopf, und wie jeden Dienstag ärgert er sich auch jetzt darüber, dass er kein eigenes Zimmer zur Verfügung hat. Natürlich kennt er die Raumnot, die auch an seiner Schule herrscht, zudem „muss der Kanton sparen“ (wie der zuständige Regierungsrat an der alljährlichen Budgetdebatte zu verlauten pflegt, obwohl in den letzten Jahren immer ein Überschuss resultierte am Ende des Jahres). Indes wäre es schön, von den räumlichen Vorteilen der naturwissenschaftlichen Fächer profitieren zu können, die zumindest über passend eingerichtete Fachzimmer verfügen können. B verflucht manchmal auch seine ziemlich ausgeklügelten didaktischen Lehr-Lern-Arrangements; sein wesentlichstes Anliegen ist es, den Schülerinnen und Schülern sie interessierende inhaltliche Angebote und didaktisch attraktive Vorschläge zu machen. Das hat unter anderem zur Folge, dass Aufbau und Einrichtung der jeweiligen Lernlandschaft sich meistens sehr aufwendig gestalten. Und Unterrichten bedeutet letztlich, der insgesamt zunehmenden Entropie eine mit viel Energieaufwand verbundene „didaktische Ordnung“ entgegen zu setzen.
B ist gestern Abend im neuen Buch von Beate Rössler, Autonomie auf ein Zitat von Iris Murdoch gestossen, das ihn wie elektrisiert hat und ihn seither nicht mehr loslässt: „Die Botschaft lautet: Alles ist zufällig. Es gibt keine tiefen Fundamente. Unser Leben stützt sich auf Chaos und Geröll und alles, was wir versuchen können, ist gut zu sein.“ Natürlich kennt er die grossen Meister des Zufalls: Sartre und Dürrenmatt. Dieses Zitat jedoch ist anders; es wirkt auf ihn vor allem wegen des Ausdrucks „Chaos und Geröll“. Gibt es ein besseres Bild für den fragilen Untergrund, auf dem (auch) die kunstvoll gebauten didaktischen Konstruktionen für Sinn ergeben sollende Unterrichtseinheiten ruhen? Wie sehr hängt gelingender Unterricht nur schon vom zeitlichen und räumlichen Kontext ab (Stundenplanposition! Kellerzimmer!), vom Funktionieren der Gerätschaften und der Medien, von der Anordnung der Tische und Stühle, von der Gestimmtheit der Lehrperson und der Klasse, der Temperatur und der Luftqualität im Zimmer, der Schulordnung und den Klassenregeln, den Postern und Bildern an den Wänden (das Periodensystem der chemischen Elemente hat B als Schüler stets eher eingeschüchtert als inspiriert und der über Monate und Jahre am immer gleichen Ort hängende Sämann von VanGogh hat ihn irgendwann derart abgestossen, dass er diese Abneigung auf das Fach übertragen hat, welches im Zimmer mit dem Sämann erteilt wurde).
„Chaos und Geröll.“
Der Gong ertönt. Es ist 10 Uhr.
„Versuchen, gut zu sein.“